„Damit sich in Unternehmen etwas ändert, muss Gleichberechtigung als hartes, strategisches Ziel definiert werden."

Das Interview führte Christine Ritzenhoff.

Wann wurde Dir zum ersten Mal bewusst, dass es einen Unterschied macht, dass Du eine Frau bist?

Als ich mit unserer dritten Tochter schwanger war und automatisch davon ausging, danach wieder in Teilzeit zu arbeiten. Wie übrigens all meine Freundinnen auch. Jede hatte ihre eigene Erklärung, warum sie sich vorrangig um die Kinder kümmert und der Vater in Vollzeit weiterarbeitet. Mal hatte sie mehr Geduld, mal war ihm der Job wichtiger. Aber wenn alle demselben Muster folgen, steckt dahinter eine Struktur. In dem Moment dachte ich: Wieso habe ich nicht viel früher gesehen, dass gesellschaftliche Erwartungen unsere scheinbar individuellen Entscheidungen so deutlich beeinflussen?

Ja, wieso kam die Erkenntnis erst mit Kind Drei? Du warst da ja längst schon in Teilzeit.

Vielleicht, weil deutlich wurde, dass es so bleiben würde. Dass alle Mütter in dieser Spur bleiben, die sie einmal eingeschlagen hatten. Ohne viel darüber nachzudenken.

Hat dieser Aha-Moment Dich dazu gebracht, mit Christian Berg die Geschäftsführung der AllBright-Stiftung zu übernehmen, die den Finger auf eben solche Probleme legt?

Das hat sicherlich den Weg bereitet. Aber ich habe mich schon davor, als Presseattaché der schwedischen Botschaft, mit Frauenfragen beschäftigt. Weil das tatsächlich das war, was deutsche Journalisten am meisten interessiert hat in Bezug auf Schweden. Aber je mehr ich gesehen habe, woran es hapert und was man tun könnte, damit es besser wird, desto mehr hat es mir in den Fingern gejuckt, selbst etwas dazu beizutragen.

Wusste Sven Hagströmer, der Gründer der AllBright Stiftung, dass das Thema in Dir brodelte, als er Dir den Job anbot?

Ja, das wusste er. Wir hatten ihn zu einem Panel in die Botschaft geladen, zum deutsch-schwedischen Dialog „Women in the Workplace“. Er saß dort als Mann und Vertreter der schwedischen Wirtschaft – und verstand erst im Verlauf des Panels, wie rückständig Deutschland im Vergleich zu Schweden ist. Im Ausland gelten wir ja als recht progressiv. Gerade, weil Angela Merkel so lange an der Spitze war. Aber zählt man mal nüchtern durch, ist es mit Frauen in wirklich mächtigen Positionen nicht so weit her. Nach der Veranstaltung jedenfalls meinten viele zu ihm: So etwas wie Ihre Stiftung bräuchten wir auch in Deutschland. Das hat in seinem Unternehmerherzen ein Samenkorn gesät. Und wir haben ihn enthusiastisch darin bestärkt.

Als ein Anstoß zur Veränderung führt ihr Studien zur Gleichberechtigung in deutschen Unternehmen durch. Welche Zahl hat Dich dabei am meisten geschockt?

2016 haben wir zum ersten Mal geschaut, wie die Vorstände in deutschen Börsenunternehmen aufgestellt sind. Da waren Männer, Männer, Männer, Männer, Männer – und nur sieben Prozent Frauen! In Schweden war man damals schon bei knapp 20 Prozent, das haben wir in Deutschland erst jetzt. Der zweite Schock kam, als wir uns 2020 auch Familienunternehmen ansahen. Das Argument war ja immer, im Mittelstand sähe es viel besser aus! Dann haben wir nachgezählt – und das war überhaupt nicht der Fall. Im Mittelstand gab es nur halb so viele Frauen an der Spitze wie in den börsennotierten Unternehmen. Da sorgen allein die Transparenzpflicht und Erwartungen von Share- und Stakeholdern für mehr Chancengleichheit. Aber steht im Familienunternehmen ein Patriarch an der Spitze, der den Sinn des Themas nicht erkennt, passiert auch nichts.

Um da Druck aufzubauen, landen Unternehmen ohne Frauen im Vorstand jedes Jahr auf Eurer roten Liste – oder eben der grünen Liste, wenn es gut läuft. Wie reagieren diese Unternehmen? Stellen sie sich tot oder rufen sie bei Euch an?

Beides, je nach Führungsteam. Die auf der grünen Liste posten auf LinkedIn natürlich gern den grünen Umschlag, wenn er mit der Post kommt. Völlig zu Recht, schließlich zeigt das, dass sie schon 40 Prozent Frauen oder mehr im Führungsteam haben.

Moment mal, Ihr verschickt die Platzierung sogar als farbigen Brief? Genial!

Ja, um das ganz physisch aufzuzeigen! Christian und ich schicken einen persönlich unterschriebenen Brief direkt an den CEO. Steht sein Unternehmen auf der roten Liste, bieten wir auch gleich das Gespräch an, wir wissen ja, worauf es ankommt. Da gibt es jedes Jahr genug, die in den Dialog gehen und fragen, was sie tun können. Ich hatte aber auch schon einen sehr unangenehmen Telefonanruf von einem CEO, der meinte, er hätte doch eine Frau im Vorstand, was de facto nicht so war (das Unternehmen ist nicht in Deutschland registriert und hat eine andere Führungsstruktur). Anhand seiner Lautstärke wurde mir klar, dass ihm überhaupt nicht egal war, auf dieser roten Liste zu stehen. Und so unangenehm dieser Telefonanruf auch war – als ich aufgelegt habe, dachte ich: Super, genauso soll es sein. Es soll ihnen nicht egal sein. Je kürzer die rote Liste wird, desto peinlicher ist es, draufzustehen. Die Unternehmen gucken sofort: Wo sind unsere Mitbewerber? Das wirkt erstaunlich gut.

„Eine Führungskarriere darf sich nicht mehr am ständig verfügbaren männlichen Mitarbeiter orientieren, dem zu Hause der Rücken freigehalten wird.”

Stößt eine Frau im Vorstand wirklich Veränderung an? Oft wirkt sie ja eher wie Kosmetik.

Das kann in der Tat in zwei Richtungen gehen: Entweder diese eine Frau ist ein vielversprechender Anfang. Oder sie ist die Alibi-Frau, die geholt wurde, um aus der Schusslinie der öffentlichen Kritik zu kommen. Heißt, es wird nicht auf den Ebenen darunter systematisch daran gearbeitet, dass viel mehr Frauen auf natürlichem Weg nach oben kommen.

Welche Schritte muss ein Unternehmen konkret gehen, damit sich was ändert?

Zuallererst muss Gleichberechtigung als hartes, strategisches Ziel definiert werden. Es reicht nicht, eine Diversity Managerin irgendwo schräg unter dem Vorstand anzusiedeln. Weiß die Führungsspitze selbst nicht, warum sie diese Veränderung braucht, wird sich nichts grundlegend verändern. Also: mehr prominente Stellen mit Frauen besetzen. Damit jeder sehen kann, da passiert was. Und dann muss man die Struktur verändern: Eine Führungskarriere darf sich nicht mehr am ständig verfügbaren männlichen Mitarbeiter orientieren, dem zu Hause der Rücken freigehalten wird – man muss durch Flexibilität Männern und Frauen dieselbe Karriere ermöglichen.

Gehört dazu nicht auch, dass Teilzeit keine „Falle“ mehr ist, sondern normal wird in Führungspositionen?

Eigentlich ja. Aber es ist in Deutschland leider noch so: In Teilzeit wird man keine Führungskraft. Zumindest nicht mit den wenigen Stunden, die Frauen hierzulande oft arbeiten. Mit einer 80-Prozent-Stelle geht das bestimmt, aber im Schnitt sind es eben nur 25 Wochenstunden.

Aber sollte es nicht auch gehen, in 25 Stunden zu führen?

Auch in Schweden, wo besonders viele Frauen in Führung sind, arbeiten diese in der Regel 32 Stunden, wenn sie Kinder haben, also fast in Vollzeit. Die hervorragende Vereinbarkeit von Arbeit und Familie ist der Schlüssel: Die Schweden haben schon 1971 das Ehegattensplitting als Fehlanreiz abgeschafft und sich auf die Dual Career ausgerichtet, also darauf, dass beide Partner sich im Job verwirklichen. Das heißt, es gibt genug Kita-Plätze, lange Betreuungszeiten und Pädagogen, die schöne Sachen mit den Kindern machen. Das führt dazu, dass Schwedinnen mehr Kinder kriegen, trotzdem eher in Führungspositionen gehen und glücklicher sind als in Deutschland. Das Privatleben hat in der schwedischen Gesellschaft eine hohe Priorität.

Wie zeigt sich das konkret im Joballtag?

Es ist in Ordnung, nachmittags zum Flötenkonzert des Kindes zu gehen. Mehr noch, es ist ein relevanter Termin. Chefs betreiben „loud leaving“, das heißt, sie gehen pünktlich und für alle gut sichtbar nach Hause. Der späte Nachmittag und frühe Abend ist ein Art Safe Space, an dem niemand erreichbar sein muss.

Es gibt also mehrere Hebel: die Dual Career. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Vereinbarkeit ermöglichen. Und Unternehmen, die das Privatleben wertschätzen.

Einer fehlt noch.

Die Männer.

Genau. Vielen Männern ist nicht bewusst, dass es nicht reicht, für Gleichstellung zu sein, sondern dass sie aktiv etwas dafür tun müssen – weil sie noch diejenigen am Hebel sind. Dazu gehört auch, dass Männer einen größeren Teil der Haus- und Familienarbeit übernehmen. Denn mehr Frauen in Führung heißt mehr Männer in Eltern- und Teilzeit und mehr Männer, die mit dem kranken Kind zu Hause bleiben. Wenn du in Schweden als Mann eine Führungsposition anstrebst, wird erwartet, dass du die Hälfte der Elternzeit übernimmst. Man möchte menschlich reife Führungskräfte, die Verantwortung für ihre Familie übernehmen – keine Manager mit Tunnelblick.

Heißt das, Männer wachsen in Schweden schon anders in ihre Rolle hinein?

Kann man so sagen. Bestimmen deutlich mehr Frauen das Land mit, ändert sich der Ton. Und was man bei uns Schröder-artig als Gedöns abtut, wird ganz selbstverständlich zur Priorität. Dieses breitbeinige Auftreten, wie es hier noch bei vielen Männer akzeptiert wird, ist in Schweden verpönt und gilt als unzivilisiert. Man hat sozusagen die nächste Zivilisationsstufe erreicht, in der das Ausbalancierte zwischen Mann und Frau Konsens ist. Und die meisten Leute, auch Männer, empfinden das als sehr angenehm.

Was können Frauen effektiv dazu beitragen, dass es dahin geht?

Zuallererst: Augen auf bei der Partnerwahl. Da es noch nicht die Regel ist, dass beide sich im Job gleichermaßen verwirklichen, halten viele Männer das nicht gut aus. Und man muss miteinander sprechen: Wie teilen wir Kinder, Haushalt und Karriere auf? Wollen wir auf Augenhöhe sein? Denn natürlich beeinflusst es die Beziehung, wenn einer sehr viel mehr verdient als der andere. Es schwingt immer mit, wer den wichtigeren Job hat und auf wen im Zweifel mehr Rücksicht genommen wird.

Oder man ist auf Augenhöhe, und Kinder ändern das plötzlich.

Man fällt in alte Rollenmuster zurück, weil man da weiß, was einen erwartet. Aber es lohnt sich, das in Frage zu stellen. Dazu gehört, als Frau „Ja“ zu sagen, wenn Dir Verantwortung angeboten wird, auch wenn das der anstrengendere Weg ist. „Er macht Karriere und sie verdient ein bisschen dazu“, das ist in Deutschland die Norm und wird am meisten honoriert. Alles, was davon abweicht, muss begründet und verteidigt werden. Egal, ob Du als Mutter ganz zu Hause bleiben oder in Vollzeit arbeiten willst – beides ist falsch. Als ich klein war, war das Modell sogar noch: Er macht Karriere, sie ist zu Hause. Meine Mutter war eine der ganz wenigen Mütter in meiner Klasse, die überhaupt gearbeitet haben.

War Dein Vater auch anders als andere Väter?

Na ja, mein Vater war Geschäftsführer, der hat auch sehr viel gearbeitet. Aber er war jeden Abend um sechs zu Hause – was, wie ich heute weiß, bei weitem nicht normal ist. Und er hat dann erledigt, was meine Mutter an Aufgaben für ihn hatte. Die waren für ihre Generation schon recht weit, aber natürlich noch weit entfernt von Parität.

Deine Töchter sind 16, 18 und 20, also kurz vor ihrem ersten Job. Diskutierst Du mit ihnen, was sie womöglich erwartet?

Ich muss da gar nicht viel diskutieren. Wir leben in Berlin Kreuzberg, meine Töchter wachsen in einem Umfeld auf, was schon sehr feministisch geprägt ist. Das ist auch, was ich den Unternehmen sage: Da kommt ein junge Generation, die sehr hohe Ansprüche an ihre Chefs und Chefinnen hat. Sie erwarten, dass diese bei dem Thema Bescheid wissen und für Chancengerechtigkeit und Vielfalt sorgen.

Besprichst Du mit Deinem Mann Deine Erkenntnisse? Ist er schon selbst ein bisschen zu ihrem Sprachrohr im Job geworden?

Meine Erfahrung ist, dass Männer, die schon sehr informiert das Richtige tun, häufig mit starken Managerinnen wie mir verheiratet sind. Sie führen eine Beziehung auf Augenhöhe, reden über all das, was Frauen bewegt und tagtäglich im Job erleben. Weil den meisten Männern dieses Problembewusstsein fehlt, geht es ja so langsam voran. Wenn sie sagen, „Ich sehe nicht, dass bei uns Frauen diskriminiert werden“, ist das gar nicht ignorant oder böse gemeint – sie sehen es wirklich nicht. Denn für sie läuft ja alles, wie es laufen soll.

„Es kann nicht mehr darum gehen, dass Frauen sich maximal anpassen.“

Sind Männer in einer Beziehung auf Augenhöhe auch diejenigen, die helfen, den Thomas-Kreislauf zu durchbrechen?

Genau das ist der Punkt. Zur Klärung: Thomas war lange der häufigste Name in den Vorständen deutscher Unternehmen. Da wir in unseren Studien auch auf die Herkunft gucken, Ausbildung und Alter, wissen wir: Vorstände ähneln sich in der Regel massiv. Ändert sich das nicht, liegt das auch am Thomas, der in Aachen BWL studiert hat und nun Personen fördert, die einen ähnlichen Hintergrund haben. Ein Thomas zieht den nächsten Thomas nach sich und der wieder einen Thomas – das ist kein typisch männliches Verhalten, sondern ein normaler menschlicher Mechanismus. Man traut demjenigen am meisten zu, der so ist wie man selbst. Damit aber weniger nach Bauchgefühl rekrutiert wird, musst Du ein Störmoment einbauen.

Was wäre solch ein Störmoment?

Du kannst zum Beispiel die Boni der entscheidenden Männer daran knüpfen, dass sie eine bestimmte Anzahl Frauen rekrutieren oder entwickeln müssen. Da sie selbst keinen Anreiz aus sich heraus haben, sich anders zu verhalten, musst das Unternehmen für einen sorgen.

Sind Frauen an der Spitze, sollten sie auch anders agieren als Männer, sonst ändert sich ebenso wenig, oder?

Ja, es kann nicht mehr darum gehen, dass Frauen sich maximal anpassen. An sie werden ihr Leben lang andere Erwartungen herangetragen, daher verhalten sie sich anders als Männer. Man muss zusehen, dass das, was Frauen mitbringen, wertgeschätzt wird, als das, was es ist: eine zusätzliche Ressource. Unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven führen zu einem besseren Ergebnis, das zeigen zahlreiche Studien. Man muss vielleicht mehr reden, aber am Ende werden schlauere Entscheidungen getroffen – für alle.

Dieses Interview erschien zuerst im She’s Mercedes Newsletter.

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Marie Zeisler